Energiewende stürzt Stromversorgung ins Chaos und spart kein Gramm CO2

Zeit für eine nüchterne Bilanz:

In jeder dramatischen Geschichte gibt es einen Wendepunkt. Für die deutsche Energiewende könnten Historiker einmal den 17. April 2014 markieren. An diesem Tag besuchte der Wirtschafts- und Energieminister Sigmar Gabriel das kleine Unternehmen SMA Solar in Kassel. Vielleicht hatte der Vizekanzler kurz vorher von seinem Staatssekretär ein Lagebild der Energiewende präsentiert bekommen, jedenfalls herrschte in Gabriel Überdruck. Als ihn der Chef des Solarunternehmens fragte, wie er sich die Zukunft des Unternehmens Grünstrom vorstelle, verlor der hohe Gast die Beherrschung: «Die Energiewende steht kurz vor dem Aus», blaffte Gabriel. «Die Wahrheit ist, dass wir die Komplexität der Energiewende auf allen Feldern unterschätzt haben. Die anderen Länder in Europa halten uns sowieso für Bekloppte.»
Zum ersten Mal hatte ein deutscher Spitzenpolitiker ausgesprochen, was er über das gigantomanische Projekt tatsächlich denkt. Bei seinem Firmenbesuch stand auch ein Lokaljournalist unter den Mitarbeitern, der die ministeriellen Worte umgehend verbreitete. Gabriel dementierte nicht.
Nichts in der Energiewende läuft so, wie es sich Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und Journalisten vor Jahren ausgemalt hatten. Der Plan zum Totalumbau der deutschen Energiewirtschaft entstand nicht erst nach dem Reaktorunglück von Fukushima 2011, sondern schon im Jahr 2000, als die damalige rot-grüne Bundesregierung gegen den Widerstand ihres Wirtschaftsministers Werner Müller das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) beschloss. Das Paragrafenwerk garantierte Erzeugern nicht nur für 20 Jahre Garantiepreise weit über Marktniveau, sondern nahm ihnen auch alle Probleme vorsorglich ab. Weder mussten Solaranlagen- und Windradinvestoren ihren Anschluss ans Stromnetz selbst finanzieren, noch brauchten sie sich um Kunden zu kümmern.
Dafür dürfen sie bevorzugt ins Netz einspeisen: Ökostrom geniesst gegenüber allen anderen Stromsorten eine eingebaute Vorfahrt. Dieses System gilt unverändert bis heute: Wer Ökostrom ins Netz schickt, erhält einen festen Preis pro Kilowattstunde, ganz gleich, ob gerade Stromüberfluss herrscht oder Mangel, ob der Börsenstrompreis hoch liegt oder bei null. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel sich 2011 für den beschleunigten Ausstieg aus der Kernkraft bis 2022 entschied, musste sie den staatlich organisierten Vormarsch des Ökostroms nicht erst organisieren, sondern nur noch kräftig beschleunigen.

Ein begehrter Exportartikel

Im Entstehungsjahr des EEG lag der deutsche Strompreis bei rund 13 Cent pro Kilowattstunde, die EEG-Umlage für jede Kilowattstunde bei 0,19 Cent, und die Gesamtsumme, mit der die Stromkunden den Ökostrom stützten, betrug bescheidene 1,2 Milliarden Euro. Viel mehr, so versicherte der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin 2004, würde das grosse Umbauwerk auch in Zukunft nicht kosten: einen Euro pro Haushalt und Monat, «so viel wie eine Kugel Eis».
Trittin, Angela Merkel und viele andere Berater und Lobbyisten entwarfen den Bundesbürgern das Bild einer grossen Transformation, das ein wenig an chinesische Propagandaposter erinnerte: Windräder, Solar- und Biogasanlagen produzieren mehr und mehr sauberen Strom, konkurrenzlos günstig, weil Sonne und Wind nichts kosten, eine Million Elektroautos surren im Jahr 2020 über Deutschlands Strassen, die grüne Industrie schafft Millionen Jobs, Städte und Gemeinden wirtschaften sich mit dezentral erzeugter Grünenergie reich. Und Deutschland besitzt einen neuen weltweit begehrten Exportartikel: sein Energiewendemodell. Heute zahlen die Stromkunden 6,24 Cent Ökoumlage pro Kilowattstunde – den Gegenwert von mehr als 240 Eiskugeln pro Haushalt und Jahr. Die jährliche Subvention von Wind, Sonne und Pflanzengas bläht sich auf über 20 Milliarden Euro auf. Die bereits ausgezahlten und schon fest zugesagten Ökostromsubventionen summieren sich mittlerweile auf 400 Milliarden Euro.

Modell Deutschland?

Als der Chef der halb staatlichen Deutschen Energie-Agentur, Stephan Kohler, versuchte, chinesischen Managern die Wirren der Energiewende made in Germany zu erklären, meinte einer von ihnen höflich: «Interessant. Aber kein Vorbild.»
Die explodierenden Kosten, der Spott aus dem Ausland – das sind noch die geringeren Probleme des Großversuchs mit offenem Ausgang. Inzwischen wankt das gesamte deutsche Stromversorgungssystem.

Eine erzwungene Kombination

Genauer gesagt: Das Land besitzt durch die Energiewende heute zwei Stromsysteme, die nicht zusammenpassen, aber beide in einer politisch erzwungenen Kombination existieren müssen. Grünstrom-Anlagen können in Deutschland heute eine rechnerische Maximalstrommenge von 82 Megawatt liefern. Der tägliche Stromverbrauch Deutschlands schwankt zwischen 30 und 80 Megawatt. An verbrauchsarmen sonnigen oder windigen Junitagen produzieren Windräder, Solaranlagen und Biogaskraftwerke tatsächlich oft genug, um die Nachfrage zu decken. In trüben, windstillen Winterwochen, etwa im Dezember 2013, befriedigten die erneuerbaren Energien allerdings noch nicht einmal fünf Prozent des Strombedarfs.
Daran ändert sich auch durch weiteren Zubau nichts: Ob 24 000 oder 40 000 Windräder in der Flaute stehen, ob der Hochnebel über 35 oder 52 Gigawatt installierter Solarstromleistung liegt – unter dem Strich bleibt das Ergebnis gleich. Ganz allmählich dämmert den Politikern, dass installierte Leistung und tatsächliche Stromproduktion sich etwa so zueinander verhalten wie die PS-Stärke eines Autos und dessen Geschwindigkeit im zähen Stadtverkehr. Die konventionellen Kraftwerke müssen also immer noch in etlichen Wochen fast den gesamten Strom für Europas letztes Industrieland liefern. Da Kohle- und Gaskraftwerke aber nur noch als Lückenspringer ans Netz dürfen und ihre Leistung sofort wieder drosseln müssen, wenn genügend wetterwendischer Ökostrom fliesst, erwirtschaftet kaum noch ein herkömmlicher Energieerzeuger Gewinn.
Das ständige Stop-and-go und der dank Ökostromschwemme niedrige Börsenstrompreis drücken nicht nur die Großskraftwerke von RWE und Eon ins Minus, sondern auch viele Gastkraftwerke kommunaler Stadtwerke. Da auf absehbare Zeit keine Großspeicher für Strom zur Verfügung stehen, braucht Deutschland also auch noch im Jahr 2020 und 2030 seinen konventionellen Kraftwerkspark.
Das Grünstrommodell verdrängt also nicht das alte, sondern es etabliert sich als Schönwettersystem, das ohne die Absicherung durch Kohle und Gas gar nicht überleben könnte. Also bleibt der Politik gar nichts anderes übrig, als neben den Ökostromsubventionen von 20 Milliarden und mehr pro Jahr demnächst auch noch Subventionen für konventionelle Kraftwerke auszureichen. Das Bundesumweltamt schätzt die Kosten dafür auf eine halbe Milliarde Euro pro Gigawatt und Jahr. Deutschland wäre damit das erste Industrieland der Welt, das eine stabile und vergleichsweise subventionsarme Energieversorgung durch ein wackliges Hybrid zweier dauerhaft subventionsabhängiger Systeme ersetzt.
Im Südwesten gibt es schon einen kleinen Vorgeschmack auf diese Praxis: Der überwiegend staatliche Versorger Energie Baden-Württemberg (EnBW) beantragte die Stilllegung von drei konventionellen Kraftwerksblöcken, die unter den Bedingungen der Energiewende nur noch rote Zahlen schreiben. Die Bundesnetzagentur genehmigte die Abschaltung allerdings nicht: Die Kraftwerke seien «systemrelevant», also unverzichtbar für eine sichere Versorgung. EnBW klagte prompt, und mit einem guten Argument: Wenn die Gesellschaft die Kraftwerke braucht, dann soll die auch deren Kosten tragen.

Aus der schief zusammengenagelten Konstruktion der Energiewende ergibt sich ein zweites kardinales Problem: Deutschland spart trotz seinem milliardenteuren Ökostromkomplex kein einziges Gramm Kohlendioxid. Aber mit einer CO2–Reduzierung begründet die Politik das gesamte Unternehmen. Denn sonst wäre es ja ein Leichtes gewesen, die Kernkraftwerke, die nach und nach bis 2022 vom Netz müssen, einfach durch neue Gaskraftwerke zu ersetzen. Tatsächlich leiden gerade die relativ umweltfreundlichen Gaskraftwerke am stärksten unter den Börsenstrompreisen, die durch den Grünstrom mittlerweile bei etwa 3,5 Cent pro Kilowattstunde liegen.
Der tiefe Großhandelspreis nützt den Kunden leider gar nichts: Gut 20 Prozent des Strompreises, den der Verbraucher zahlt, besteht aus Netzentgelten, 50 Prozent aus Steuern und Abgaben. Brutto zahlen die Bundes-bürger mit gut 28,50 Cent pro Kilowattstunde die zweithöchsten Strompreise Europas (nach Dänemark). Aber der tiefe Börsenpreis schafft es, gerade Gaskraftwerke aus dem Markt zu werfen, mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern auch in den benachbarten Niederlanden. Am ehesten behaupten sich auf dem Tiefpreismarkt abgeschriebene Braunkohlemeiler (und Atomkraftwerke, deren Ende politisch besiegelt ist).
Kohle mit viel CO2-Ausstoss ersetzt also Gas. Im ersten Halbjahr 2013 sah das folgendermassen aus: Die Stromerzeugung aus Kohle stieg im Vergleich zum Vorjahr um sechs Terrawattstunden – die Stromerzeugung aus Gas sackte um 4,6 Terrawattstunden ab. Im Jahr 2014 setzte sich der Trend ungebrochen fort. Das Klimamusterland Deutschland entlässt folglich nicht weniger Kohlen-dioxid in die Atmosphäre, sondern deutlich mehr.

«Wir haben uns geirrt»

Lange redeten sich Politiker und Umweltverbandsfunktionäre die Lage schön: Durch den europäischen CO2-Zertifikatehandel würde man die Kohle schon ausreichend teuer machen können, um das Spiel wieder zu drehen. Auch diese Hoffnung liegt mittlerweile in Trümmern. Der Zertifikatepreis für eine Tonne CO2 beträgt Ende 2014 etwas weniger als acht Euro. Das Mannheimer Zentralinstitut für Wirtschaftsforschung rechnet für das kommende Jahr mit einem Preis um die zwölf Euro.
Um Unternehmen mit dem ökonomischen Hebel zum Umstieg von Kohle zu Gas zu zwingen, wäre ein Preis von mindestens 30 Euro nötig – und den sieht auf absehbare Zeit keiner. Weil Deutschland seinen konventionellen Kraftwerkspark schon verkleinerte und die Wirtschaftskrise im Süden die Industrieproduktion drosselt, gelangen viele frei werdende Zertifikate auf den europäischen Markt, die Nachfrage bleibt niedrig, der Preis deshalb auch.
Die linksliberale Zeit schrieb vor Kurzem: «Wir haben uns geirrt bei der Energiewende. Nicht in ein paar Details, sondern in einem zentralen Punkt. Die vielen Windräder und Solaranlagen, die Deutschland baut, leisten nicht das, was wir uns von ihnen versprochen haben. Wir hatten gehofft, dass sie die schmutzigen Kohlekraftwerke ersetzen würden, die schlimmste Quelle von Treibhausgasen. Doch das tun sie nicht …
Wer es wissen wollte, der konnte es wissen, auch damals schon. Aber wer wollte es wissen? Rund um die Erneuerbaren ist in den vergangenen Jahren ein regelrechter politisch-industrieller Komplex herangewachsen. Alle Akteure in diesem Komplex verbindet ein Interesse: Probleme der Energiewende müssen lösbar erscheinen, damit die Wind- und Sonnenbranche weiter subventioniert werden.» Neu sind die Erkenntnisse nicht. Neu ist, dass die erschrockenen Bürger sie in einem Blatt lesen, das ihnen noch vor Kurzem das Bild vom Ökowunderland entworfen hatte.
Profitieren wenigstens diejenigen, die ihr Geld in Windräder und Solar-Aktien gesteckt hatten? Ende 2013 mussten Anleger und Gläubiger Deutschlands größten Solarkonzern retten, das Bonner Unternehmen Solarworld. Aktionäre verloren 95, Gläubiger 60 Prozent ihres Kapitals. Die deutsche Solarindustrie beschäftigt heute nur noch 5000 Mitarbeiter. Und Wind? Nach Berechnungen des Anlegerbeirats des Bundesverbandes Windkraft produzierten zwei Drittel der Rotoren im Inland Verluste. Selbst Stadtwerke wie die von Erlangen und Mainz verloren mit ihren Windparks Millionen. Investoren des mittlerweile insolventen Windkraftunternehmens Prokon können sich glücklich schätzen, immerhin die Hälfte ihres Einsatzes wiederzubekommen.
Wohin führt das Experiment, das Bundeswirtschaftsminister Gabriel «eine Operation am offenen Herzen» nennt?
Spätestens mit Abschaltung des letzten Kernkraftwerks 2022 tut sich eine strukturelle Stromlücke auf. Deutschland muss also in Zukunft seinen Grünstromsektor subventionieren, seine konventionellen Kraftwerke ebenfalls – und obendrein noch polnischen Braunkohle- und französischen Atomstrom zukaufen. Der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Arnold Vaatz, prognostiziert schon heute: «Die Energiewende wird irgendwo auf halbem Wege stecken bleiben.»

Alexander Wendt ist Journalist beim deutschen Nachrichtenmagazin Focus und Autor des Buches «Der grüne Blackout. Warum die Energiewende nicht funktionieren kann», Edition Blueprint, Taschenbuch bei Amazon 9.99 Euro, Kindle 3.99 Euro